1. Mai-Rede 2013 von Daniel Frei

Liebe Genossinnen und Genossen
Geschätzte Anwesende

Wenn wir die Headlines in den Medien lesen und mit den Leuten sprechen, dann ist seit einiger Zeit immer und immer wieder die Rede von Krise: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Bankenkrise, Eurokrise, Vertrauenskrise, Marktkrise, und – summa summarum – von Kapitalismuskrise. Die Krise ist somit zum Dauer- und Normalzustand geworden.

Helmut Schmidt, der frühere deutsche Bundeskanzler, hat einmal gesagt: In der Krise zeigt sich der Charakter. Diese Aussage finde ich sehr bemerkens- und bedenkenswert.

 

 

Wenn wir den Charakter der Menschen in Politik, Wirtschaft und Verbänden anschauen, die diese Krise verursacht haben und wenn wir den Charakter der dahinter stehenden Mechanismen und Ideologien betrachten, dann kommen wir zum Schluss, dass es sich vor allem um eine ganz bestimmte Sorte von Krise handelt: Um eine Wertekrise nämlich.

 

 

Es ist weder natur- noch gottgegeben, dass Investmentbanker von Grossbanken mit Milliardenbeträgen spekulieren müssen. Oder dass Saläre, Boni und Abgangsentschädigungen in Millionenhöhe für einige wenige Manager der Pharma- und Bankenwelt bezahlt werden müssen. Oder dass weltweit an Börsen auf Nahrungsmittelpreise gewettet werden muss. Oder, oder, oder – ich könnte noch zahlreiche Beispiele aufzählen.

 

 

Genauso wenig ist es umgekehrt einfach „gegeben“, dass es – auch in der reichen Schweiz und im reichen Kanton Zürich – zigtausende von Working Poor gibt, Menschen und Familien also, die trotz Vollzeitarbeit von ihrem Lohn nicht leben können.

 

 

Und genau so wenig ist es einfach „gegeben“, dass gesamtgesellschaftlich gesehen, die Lohn-, Einkommens- und Vermögensungleichheit ständig zunimmt und im Kanton Zürich die reichsten 2 Prozent der Bevölkerung gleich viel besitzen wie die übrigen 98 Prozent und in weniger als 30 Jahren das Verhältnis von den tiefsten zu den höchsten Löhnen in grossen Schweizer Unternehmen im von 1:6 zu 1:93 zugenommen hat.

 

 

Nein, alle diese Entwicklungen finden nicht einfach so statt. Sie entsprechen auch nicht einer zwingenden Marktlogik, wie es manchmal als Ausrede begründet wird. Diese Entwicklungen sind gewollt und bewusst zugelassen. Sie sind Folge der Werthaltungen, die die verantwortlichen Personen in Politik und Wirtschaft eingenommen haben.

 

 

Als Werte wurden insbesondere in den 90er- und 2000-er-Jahren Profitmaximierung, Effizienzsteigerung, Deregulierung, Liberalisierung hochgehalten. Das Bild des Menschen als homo oeconomicus wie die Ökonomen es nennen, also als Mensch, der rein rational handelt und versucht für sich selbst immer das Beste herauszuholen, dieses Bild wurde zum Idealbild stilisiert.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich bin überhaupt nicht grundsätzlich gegen Effizienz. Und nicht jede Deregulierung per se ist einfach falsch. Und auch ich habe liberale Züge in mir und glaube, dass es auch politisch durchaus Kräfte braucht, die freiheitliche Werte hochhalten.

 

 

Was wir aber erlebt haben, ist die Masslosigkeit, die Gier und eben die Verschiebung von Werten, die dazu geführt haben. Was wir jetzt aber auch sehen, ist, dass die Leute dies wahrgenommen haben und davon genug haben. Die deutliche und noch vor wenigen Jahren undenkbare Annahme der Abzocker-Initiative ist dafür ein deutliches und positives Zeichen.

 

 

Umso wichtiger ist es jetzt, Gegensteuer zu geben und in die Offensive zu gehen. Es müssen in Politik und Wirtschaft wieder andere Werte gelten, die den Kurs bestimmen. Das Gemeinwohl muss wieder über dem Wohl des Einzelnen stehen. Für alle statt für wenige eben. Als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten verfügen wir dazu über optimale Voraussetzungen.

 

 

Die SP feiert dieses Jahr in der Schweiz ihr 125-jähriges Jubiläum. Ihr alle seid herzlich eingeladen zur grossen Jubiläumsfeier am 7. September in Bern. Seit der Gründung im Jahr 1888 hat sich vieles verändert: Aus der einstigen Arbeiterpartei ist eine linke Volkspartei geworden, die sowohl im Kanton Zürich wie auch im Bund den zweitgrössten Wähleranteil aufweist und Regierungsverantwortung trägt.

 

 

Bei allem Wandel ist aber eines geblieben: Eine Politik für alle statt nur für wenige, die vom Gerechtigkeitsgedanken geprägt ist. Der Wert der Gerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte und die Politik der SP.

 

 

Und so ist es auch kein Zufall, dass in Umfragen der SP die höchste Glaubwürdigkeit in Bezug auf soziale Gerechtigkeit attestiert wird und dass im Internet im Vergleich zwischen allen Parteien der Begriff „Gerechtigkeit“ mit Abstand am Häufigsten mit der SP in Verbindung gebracht wird.

Die Gerechtigkeit hat ganz verschiedene Facetten: Es gibt Verteilungsgerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Lohngerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Leistungsgerechtigkeit, Ressourcengerechtigkeit – und wohl noch einige mehr.

Selbstverständlich ist es mit dem Label Gerechtigkeit alleine noch nicht getan. Wir müssen dieses Label leben und ihm Glaubwürdigkeit verleihen! Einerseits müssen wir anhand konkreter Positionen und Projekte aufzeigen, was unsere Vorstellung von Gerechtigkeit ist und was dies bedeutet.

 

 

Und andererseits müssen wir im politischen Tagesgeschäft immer wieder darauf hinweisen, dass es nicht nur um Detailfragen und abstrakte Vorhaben geht, sondern immer auch um die Frage der Gerechtigkeit.

 

 

Ich habe manchmal den Eindruck, dass viele Leute vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Alles ist komplex und kompliziert, auch in der Politik. Das führt dazu, dass viele die Politik nur noch zur Kenntnis nehmen und sich nicht mehr aktiv damit auseinandersetzen und sich einbringen. Obwohl es ja gerade in unserem politischen System dazu zahlreiche Möglichkeiten gäbe wie sonst kaum wo.

 

 

Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, dass wir wir den Leuten immer wieder aufzeigen, um was es grundsätzlich in der Politik geht und ihnen auch aufzeigen, dass ihre Beteiligung, ihre Willensäusserung, ihre Stimmabgabe von Bedeutung ist und sie Einfluss nehmen können.

 

 

Die nächste Zeit wird uns dazu verschiedene Möglichkeiten bieten. Es stehen zahlreiche wichtige Abstimmungen bevor, die ja immer auch unabhängig vom Abstimmungsergebnis eine Plattform bieten, Themen zu setzen, Diskussionen zu führen und Präsenz zu zeigen.

 

 

Ich möchte einige Beispiele erwähnen:

 

  • Auf Kantonsebene wird im Juni eine Abstimmung über die Bonzensteuer-Initiative der Juso stattfinden, die eine höhere Besteuerung grosser Vermögen verlangt. Dabei geht es um Verteilungsgerechtigkeit.
  • Die Wohnbau-Initiative der SP Kanton Zürich mit dem Titel „Wohnen für alle“ verlangt eine Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus in den Gemeinden und befindet sich derzeit im Kantonsrat in der Diskussion. Dabei geht es um Verteilungs- und Ressourcengerechtigkeit.
  • Und weil wir hier in Meilen am Zürichsee sind: Kantonal ist auch eine Abstimmung über den Gegenvorschlag zur Seeuferweg-Initiative denkbar. Damit soll das Seeufer allen zugänglich gemacht werden. Auch da geht es Verteilungsgerechtigkeit.
  • Im Bund wurde die Mindestlohn-Initiative eingereicht, die einen Mindestmonatslohn von CHF 4’000 für einen Vollzeitjob verlangt. Dabei geht es um soziale Gerechtigkeit und um Lohngerechtigkeit.
  • Ebenfalls eingereicht ist die nationale Erbschaftssteuer-Initiative, die eine Steuerabgabe bei grösseren Erbschaften fordert. Dabei geht es um Verteilungsgerechtigkeit.
  • Und ebenfalls um Verteilungsgerechtigkeit geht es bei der nationale 1:12-Initiative, die verlangt, dass der höchste bezahlte Lohn in einem Unternehmen maximal 12 Mal höher sein darf als der tiefste bezahlte Lohn.

 

Was ich mit diesen Hinweisen sagen will: Das Thema Gerechtigkeit muss nicht nur theoretisch und philosophisch diskutiert werden, nein, es kann und soll ganz praktisch und angewandt debattiert werden. Möglichkeiten dazu gibt es genug. Es liegt an uns, diese Möglichkeiten als Chancen zu nutzen und der Politik damit unseren Gerechtigkeitsstempel aufzudrücken.

 

 

Ich habe mit einem Zitat zur Krise und dem Charakter begonnen. Ich möchte auch mit einem Zitat aufhören. Es stammt aus der Werbung und lautet: Die Krise beginnt im Kopf. Der Aufschwung auch.

 

 

Ja, richtig. In Abwandlung dazu könnte man sagen: Werte beginnen im Kopf. Ihre Änderung auch. In diesem Sinne freue ich mich, mich mit euch zusammen für eine gerechte Politik einsetzen zu können und danke euch für euer Engagement und eure Aufmerksamkeit!